Der Acheron-Konflikt, Kapitel 1 – Erwachen

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Eine Explosion weckte mich. Nein, unmöglich. Ich sollte tot sein. Ich setzte mich auf und spürte dabei den klebrigen Fußboden in Haschris Bar. Sein Blut klebte an meinen Händen. Kein Traum. Ich noch am Leben. Keiner da, die Tür offen und neben ihr dieser Fremde, den Haschri kannte, tot wie Haschri selbst, erschossen mit einer einzelnen Kugel in den Kopf. Glaubst du, sie werden uns in schöne Schiffe setzen und uns zurück in unsere Heimat bringen? Ich wollte mir die Augen reiben und hielt erst inne, als ich meine roten, feucht-klebrigen Finger vor dem Gesicht sah. Das war der Moment, als ich mich übergab, mitten über die Leiche meines Freundes. Nun erst hatte ich realisiert, dass es kein Traum war. Mein Gesicht schmerzte, ich blutete leicht an an der linken Seite, meine Nase fühlte sich taub an. Vermutlich wurde ich nieder geschlagen, doch ich konnte mich an nichts erinnern, nachdem ich meine Augen schloss. Warum hatte der Fremde mich verschont? Oder ist eine Kugel in deinen sturen Kopf zu schießen nicht viel billiger? Ich verstand es nicht.

Die Invasion, von der Haschri erzählte, die Verschwörungstheorien über ein Geheimnis unter der Planetenoberfläche… keine Theorien. Es war die Wahrheit. Es musste die Wahrheit sein. Es passierte. Jetzt. Ich richtete mich auf und blickte noch einmal auf den Boden. Ich sage dir, da unter der Erde liegt etwas, dagegen ist Öl so viel wert wie der Dreck unter deinen Fingernägeln! Es war Zeit zu gehen.

Als ich die Bar verließ, traute ich meinen Augen nicht. Es war bereits – für die Verhältnisse hier auf Jura-3 – hell, vermutlich kurz nach „Sonnenaufgang“ und tote Ghulams sowie andere Soldaten, deren Dienstbezeichnung ich nicht zuordnen konnte, lagen in den Gassen, zwischen ihnen auch Schürfer und andere Arbeiter, einige von ihnen kannte ich. Wieder erschien mir die ganze Situation wie ein Traum. Vereinzelt hörte ich in der Entfernung Schüsse, vermutlich aus dem Zentrum der Kolonie. Jedes Mal, wenn ein Schuss abgefeuert wurde, pochte mein Kopf. Ansonsten war es totenstill. Ich nahm mir das Gewehr eines Gefallenen, wenn ich auch bisher noch nie mit einer Waffe geschossen hatte, er würde es ganz bestimmt nicht mehr tun.

Ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte, jedenfalls weg von den Schüssen. Im Norden der Kolonie stieg Rauch auf, also war das Vergnügungsviertel kein Ziel. Der Raumhafen! Natürlich, wenn es eine Möglichkeit gab, raus aus Acheron, weg von Jura-3, dann über den Raumhafen südlich der Siedlung. So bitter der Gedanke auch in meinem Kopf klang: Irgendeines dieser Schiffe hatte sicherlich keine Besatzung mehr und wartete auf eine neue Crew. Also folgte ich der Spur der Verwüstung. Oh Acheron, benannt nach dem Fluss, der in das Reich der Toten führt, weil so viel Blut vergossen wird. Ich mied die Hauptstraßen und bewegte mich über Seitengassen. Wer auch immer die Angreifer waren, sie würden Acheron nicht so gut kennen wie ich und sicherlich auf den großen Verkehrswegen bleiben.

Nach drei Häuserblocks hörte ich erstmals seit meinem Erwachen Stimmen. Leise und gebückt bewegte ich mich von Schatten zu Schatten. „Wenn die zu den Leuten aus Haschris Bar gehören“, murmelte ich leise in mich hinein, „machen die kurzen Prozess mit mir.“ Einen Schritt setzte ich behutsam vor den anderen, immer aufmerksam auf die Stimmen achtend, die sich langsam auf mich zu bewegten.

Die Stimmen mussten sich bereits auf wenige Meter genähert haben, doch noch hatten sie mich nicht entdeckt. Mir fiel nichts besseres ein und so legte ich mich leise auf den Boden und stellte mich tot. Ein Plan, der mir plötzlich so dumm vorkam, dass er einfach klappen musste. Die Stimmen wurden lauter, verständlicher und schließlich konnte ich Schritte wahrnehmen, die den Boden leicht vibrieren ließen. Und so gleichmäßig, wie sie auf mich zukamen, so entfernten sie sich auch wieder von mir. Ich hatte es geschafft. Ich wollte aufstehen, um meinen Weg zum Raumhafen fortzusetzen.

Doch ich hatte nicht mit ihr gerechnet. Wie passte diese graziöse Gestalt hier her? Nach Acheron? Mitten in ein Gemetzel? Ein ebenes, freundliches Gesicht sah mich, der ich mich noch halbkniend auf dem Boden befand, wortlos an. Die Frau, zu der es gehörte, musste meine List durchschaut haben und wartete direkt vor meiner Nase nur darauf, dass ich mich sicher fühlte. Langsam hob sie ihr Gewehr und deutete mir, dass ich meines besser auf dem Boden liegen ließ, also öffnete ich meine zittrige Hand und es fiel in den Dreck. Ihr Blick blieb freundlich und eine Geste mit ihrem Kinn gab mir zu erkennen, dass ich nun aufstehen durfte. „Ich glaube, das hier ist die Ratte, von der Cedric sprach!“, rief sie zu ihren Kameraden und ihr sanftes Lächeln nahm hämische Züge an. Ich blickte kurz über meine linke Schulter. Die beiden Männer, die sich unterhaltend an mir vorbeibewegten, kamen nun lachend zurück. Ich erkannte sie. Sie waren heute Nacht in Haschris Bar. Einer von ihnen war der Funker und der andere war jener Mann, der nur stumm daneben stand und den Großen, vermutlich war das Cedric, gewähren ließ. Und dann erinnerte ich mich.

„Möge Allah für dich sorgen, Haschri.“ Ich schloss meine Augen und wartete duldsam auf den dritten Schuss des Mannes.

Doch er kam nicht. Also öffnete ich meine Augen wieder und sah den Schweigenden vor mir stehen. Er lächelte und legte den Kopf schief. Er griff sanft mit der rechten Hand nach meinem Kinn, hob es an und musterte mich. Er senkte es schließlich wieder ab, um mir in die Augen zu sehen und mit leister Stimme zu fragen: „Wo finden mein Freund und ich in diesem Loch das nächste Kommunikationscenter?“

Ich schwieg zuerst, dann packte er mein Kinn fester und rammte seine Linke mit aller Kraft in meinen Bauch. „Wo finden mein Freund und ich in diesem Loch das nächste Kom-mu-ni-ka-tions-cen-ter?“, fragte er erneut, abermals mit leiser, fast lieblicher Stimme. Mein erneutes Schweigen quittierte er mit einem Lächeln. Er lenkte meinen Kopf so, dass ich Haschri, der hinter dem Tresen lag, genau sehen konnte. Mit der linken Hand griff er nach einer Flasche, zerschlug diese und stellte sie direkt unter mein Gesicht auf den Tresen. Dann packte er mich fest an meinem Schopf, drückte mich in Richtung des scharfen Flaschenrests und fragte ein drittes Mal, wieder ruhig und freundlich: „Wo finden mein Freund und ich in…“

Er musste nicht weiter sprechen. Ich akzeptierte eine schnelle Hinrichtung durch den Großen als das bessere Schicksal und sagte ihnen hastig und mit überschlagender Stimme alles, was ich wusste: „Die Regionalverwaltung betreibt eine Funkstation, nur wenige Blocks von hier… gleich links die Straße runter, die vierte Kreuzung wieder links… das zweite Gebäude! Bitte…“ „Bitte was?“, fragte der Mann und drehte meinen Kopf nun mit beiden Händen gewaltsam wieder so, dass wir uns ansahen. „Bitte töten Sie mich einfach… bitte…“, stammelte ich und spürte, wie Tränen in meine Augen stiegen und sich warmer Harn in meine Hose senkte. Er blickte zum Großen, der wiederum zu mir sah und lächelnd seine Pistole senkte. Stattdessen drehte er sich um und sprach beim Verlassen der Bar freundlich aber bestimmend: „Das Jurisdiktionskommando von Corregidor bedankt sich für Ihre treuen Dienste.“ Ich spürte, wie mein Gegenüber mit seinen Fingern fest in mein Haar griff. Er kam mit seinem Gesicht ganz nah an meines und sagte zu mir nun noch leiser als zuvor: „Solltest du uns angelogen haben, du Wurm, dann komme ich wieder, ohne den Boss.“ Er nahm mit einer Hand die zerbrochene Flasche in die Hand und streichelte mir damit über meine linke Wange, ehe er einmal fest andrückte und sie dann fallen ließ. Ich fuhr vom Schmerz auf, konnte mich aber nicht rühren, zu stark war der Griff der zweiten Hand. Er kam nun ganz nah an mein Ohr, drückte seinen Kopf fest an meinen und flüsterte erlösend: „Süße Träume.“

Ich erinnerte mich und nun regte sich in mir neuerliche Übelkeit. Ich konnte meinen Kopf pochen spüren und die Wunde an meinem Gesicht brannte neu auf.

„Meine Dame! Mein Herr!“, sprach mein Peiniger sichtlich amüsiert und feierlich, „Ich darf Ihnen den Held des Jurisdiktionskommandos vorstellen! Dank dieses tapferen Schürfers konnten wir ohne nennenswerte Verluste die Kommunikationsstruktur Acherons UND den Raumhafen übernehmen.“ Er gestikulierte während seiner Ausführungen, mit denen er mich sichtlich demütigen wollte, wild mit den Armen: „Wenn wir erst einmal die Stadt unter vollständiger Kontrolle haben, sollten wir ihm zum Dank einen hohen Verwaltungsposten anbieten, meint ihr nicht? Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass man das Leben hunderter Freunde und Kollegen bereitwillig für einen Fremden opfert… den man erst wenige Minuten zuvor in einer Bar das erste Mal traf… nicht wahr?“

„Ach, halt die Klappe Sanchez, du Idiot!“, fuhr ihn die schöne Frau an, die mich vorhin erst aufgriff. Sie senkte ihre Waffe und ergänzte: „Bringen wir ihn zum Raumhafen, soll Cedric entscheiden, was aus ihm wird. Ihr wisst beide, dass Ariadna und Yu Jing im Norden gelandet sind und ich will ehrlich gesagt nicht zu dritt hier Patrouille schieben, wenn die Richtung Zentrum vorrücken und dabei wild um sich schießen.“ „Jaja, schon gut, also ab zu Cedric mit unserem neuen Freund!“, gab Sanchez nach und packte mich lachend mit dem Arm am Hals, als wären wir alte Bekannte.

Das Funkgerät meldete sich: „An alle Patrouillen! Einrücken in den Raumhafen!“, kurzes Rauschen, „Das Feuergefecht im Norden eskaliert!“ Erneut rauschte es kurz: „Ich wiederhole: Einrücken in den Raumhafen! Wir gruppieren uns neu!“ Die Frau fluchte: „Was hab ich gesagt, hä? Scheiße!!! Ich wusste von Anfang an, dass das kein Spaziergang wird, aber nein, ich bin ja nur eine blöde Tussi ohne Ahnung! Kommt, beeilen wir uns, Cedric wird einen neuen Auftrag für uns haben!“

Wir gingen ein Stück und bogen in eine der großen Straßen ein. Erst jetzt wurde mir das Ausmaß des Morgens bewusst: Es waren eindeutig Söldner der Nomadennation und sie hatten den südlichen Teil Acherons im Sturm erobert. Die haqqislamische Regionalverwaltung konnte sich vermutlich gar nicht erst formieren, da das Kommunikationsnetz nicht mehr funktionierte. Dafür hatten Cedric und seine Leute mit meiner Hilfe gesorgt. Meine Beine wurden bei diesem Gedanken schwach, doch Sanchez stützte mich gegen meinen Willen und so gingen wir weiter. Hinter uns, im Norden, kam es zu mehreren Explosionen und so begannen wir uns im Laufschritt zu bewegen. Adrenalin ließ mich wie eine Maschine funktionieren und kurz Tod, Vernichtung und Chaos um mich herum vergessen.

Der Raumhafen wirkte bei unserer Ankunft wie eine ausgebaute nomadische Wehranlage, als wäre Acheron gar keine haqqislamische Kolonie und das hier ein freier Planet. Als wir das große Tor passierten, entspannten sich die drei Söldner und Sanchez fragte mich: „Wie heißt du eigentlich?“ Er löste seinen Griff und bot mir im Gehen eine Zigarette an. „Bou“, erwiderte ich niedergeschlagen, „Ich heiße Bou.“


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